Sprakforsvaret
   

Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft, Schloß Köthen, 23. Juni 2012


Sehr geehrte Damen und Herren,

würde hier ein Vertreter der schwedischen Regierung stehen, erhielten Sie in den nächsten 20 Minuten Zahlen und Zusammenhänge, die schwedische Weltoffenheit in der Sprachpolitik demonstrierten. Das rosarote deutsche Schwedenbild fände sich um ein weiteres Mal bestätigt.


In über zwanzig Jahren als Hochschullehrer, Übersetzer und unabhängiger Projektforscher in Schweden habe ich anderes erlebt. An einigen Erfahrungen möchte ich Sie gern teilhaben lassen.


Zur Eröffnung des Europäischen Jahres der Sprachen 2001 hielt der schwedische Minister für Ausbildung eine Rede in Lund. Es war jenes Jahr, in dem der Europäische Tag der Sprachen eingeführt wurde und Hoffnungen auf die Überwindung monolingualer Sichtweisen seitens der Politik nährte. Die Botschaft, die der Minister den 2000 anwesenden Sprachlehrern und Sprachbegeisterten übermittelte, lautete zusammengefaßt „Mit Englisch kommt man weit – und eigentlich reicht Englisch aus.“


In jener Zeit trieb das Mobbing der Schulsprachen in Schweden bereits Blüten, die Sie mir kaum glauben werden. Meine Reaktion war seinerzeit ähnlich. Ich wollte die hanebüchenen Entwicklungen einfach nicht wahrhaben. Schülern des naturwissenschaftlichen Zweigs der Gymnasialschule wurde das Erlernen einer zweiten Fremdsprache verwehrt, da sie mit der Wahl einer solchen auf Pflichtpunkte in tragenden Fächern hätten verzichten müssen. Im Dezember 1989 beschloß der Reichstag die Kommunalisierung der schwedischen Schule, und im Laufe der 1990er Jahre setzte sich der Konkurrenzgedanke durch. Die nichtsprachlichen Wahlmöglichkeiten der Gymnasiasten wurden ins Unendliche erweitert. Lockende Kursangebote ließen Schüler taktisch wählen. Mit der Kurswahl „Mumsig mat i mysig miljö“ (Leckere Speisen in trautem Ambiente) kamen sie wahrscheinlich leichter zu einem „Ausgezeichnet“ als mit Französisch oder Deutsch, das sie dafür abwählen konnten. Zudem erwarben die Gymnasiasten ihre verlangten Hochschulpunkte mit weniger Aufwand. Gymnasialschulen buhlten um Schüler mit einem nicht endenwollenden Erfindungsreichtum an Kursen: Festfixarna (Festgestaltung), Balträning („Schick essen und tanzen“), Massagetechniken aus aller Welt.


An den Hochschulen und Universitäten verschwand fremdsprachige Kursliteratur – von Englisch abgesehen – auf Nimmerwiedersehen. Für die Sprachen begann eine harte Zeit – die Zahl der Studenten, die den sprachlichen Anforderungen genügten, sank stetig. Manche Sprachabteilung an Hochschule und Universität suchte ihr Heil in Anfängerkursen. Diese verbot schließlich das Staatliche Hochschulamt mit dem Argument, man könne diese Sprachen ja, wenn man wolle, in der Schule lernen. Der Staat könne doch nicht zweimal Geld für Anfängerkurse ausgeben. Vertreter des Schulamtes wiederum beklagten, daß die Schüler in Scharen Sprachen abwählten, wechselten oder die Ausbildung abbrachen – ABER die freie Wahl sei doch ein hohes Gut, da könne man nichts machen: „Wenn die Schüler Deutsch nicht wollen, müssen wir das respektieren.“ Mit anderen Worten: Der Staat schaute tatenlos zu, wie das Erlernen von Fremdsprachen dem Wildwuchs alternativer Kursangebote geopfert wurde.


In anderen Ländern mit ähnlichen Problemen nannte man die Sprachen, denen die Studenten ausblieben, schließlich „kleine Fächer“. In Schweden ging man weiter. Dort hießen die Sprachen – selbst in offiziellen Publikationen des Hochschulamtes – plötzlich småspråk: Kleinsprachen. Und Kleinsprachen wie Spanisch, Französisch, Russisch, Polnisch und Deutsch brauche man einfach nicht mehr. Im Zeitalter der Globalisierung, so der Tenor der selbst das Schwedische mit Herablassung behandelnden Politbürokratie, reiche Englisch aus. Und vielleicht ein bißchen Mandarin, das man als wählbare Schulsprache einführte.


Ich habe die Abschaffung sämtlicher Fremdprachfächer außer Englisch an einer neugegründeten Hochschule im Süden Großstockholms, Södertörn, miterlebt und ein Buch darüber geschrieben. Es heißt Språklöshet (Sprachlosigkeit) und im Untertitel Wie Schweden lohnende Ausbildungen verschrottet. Meine Kollegen in den Kleinsprachen übersetzten die vierseitige Zusammenfassung ins Spanische, Französische, Polnische und Russische. Auch die Kleinsprache Deutsch ist im Buch vertreten. Die Buchpremiere brach den Besucherrekord im Stockholmer Goethe-Institut, das uns dafür seine Räume zur Verfügung stellte. Staatliches Fernsehen, in Schweden „Public Service“ geheißen, und einige Gewerkschaftszeitungen berichteten über den Skandal, der in der schwedischen Hochschullandschaft seinesgleichen sucht. Die Hochschulleitung versuchte abzuwiegeln, Lügen zu verbreiten und alles totzuschweigen. „Locket på“, heißt das schwedisch, „Deckel drauf“.


Inzwischen ist Deutsch in Schweden nur noch ein Relikt. Mehr als die Hälfte der Sprachinstitute an Universitäten und Hochschulen sind abgeschafft, die Zahl der Deutschlernenden an Schule und Gymnasialschule hat sich über einen Zeitraum von 15 Jahren mehr als halbiert. 6000 Studierende lernen im deutschsprachigen Raum Schwedisch. In Schweden sind es noch einige Hundert, die an Universität und Hochschule Deutsch wählen. Ein Vergleich der Bevölkerungszahl in beiden Ländern – Deutschland 81 Millionen, Schweden 9 – sagt wenig aus. Denn Schwedens größter Handelspartner ist Deutschland. Die deutsche Ausfuhr nach Schweden beträgt gut 18% des schwedischen Handelsvolumens, die schwedische Ausfuhr nach Deutschland nur 10%. Die Handelsbilanz ist, wie Sie sehen, nicht ausgeglichen. Deutschkenntnisse sind gefragt, um Produkte und Dienstleistungen auf dem deutschsprachigen Markt anbieten und verkaufen zu können. Weil diese Deutschkenntnisse fehlen und das kulturelle Umfeld dadurch wegbricht, verliert Schweden Marktanteile. Es ist manchmal nicht ganz verkehrt, Europa- oder weltweit gesprochene Kleinsprachen zur Kenntnis zu nehmen und nicht mit nasaler Stimme zu tönen, die Deutschen sollten sich endlich befleißigen, Englisch zu lernen. Das Mobbing der Kleinsprachen fällt auf Schweden zurück.


Die schwedische Wirtschaft mahnte bereits 1987 fehlende oder unzureichende Deutschkenntnisse an. Daraufhin wurde ein Fonds eingerichtet, der heute an der Deutsch-Schwedischen Handelskammer verwaltet wird. Die Konkurrenz um jährlich 80 Stipendien für Intensivkurse in Deutsch und deutscher Geschäftskultur in München oder Rendsburg für Mitarbeiter schwedischer Firmen ist groß. Diese Kurse sind begehrt und beliebt. Ihre Teilnehmer berichten enthusiastisch von direkten Auswirkungen auf die Exporttätigkeit ihrer Unternehmen. Plötzlich können sie Offerten lesen oder mit deutschen Geschäftspartnern telefonieren. Sie trauen sich, deutsch zu sprechen und zu schreiben. Aber es ist immer eine schwierige Entscheidung insbesondere für einen Kleinbetrieb, einen Mitarbeiter zwei Wochen lang zu entbehren. Staatliche und kommunale Versäumnisse in der Sprachpolitik lassen sich auf diese Art zwar mildern, aber nicht beheben.


Endlich reagiert nun auch die Politik. Für die Wahl von Fremdsprachen und Mathematik an Gymnasialschulen gibt es neuerdings Extrapunkte, die nach bestandener Prüfung den Weg an die Hochschule erleichtern.                    
Es gibt auch jene Schweden, die den Rückgang von Deutsch in Schweden Deutschland anlasten. Eine solche Sicht verkennt Ursache und Wirkung. Allerdings tut Deutschland nicht immer Nachahmenswertes, um die deutsche Sprache im Ausland zu stärken und zu stützen. Die Rechtschreibreform, diese staatlich verordnete Legasthenie, wie DER SPIEGEL sie vor seinem Einknicken nannte, hat Deutschlernende zusätzlich verunsichert und zur Abwahl des Fachs beigetragen. Um das Diktat durchzusetzen, berief sich die deutsche Politik, wie Sie wissen, schließlich auf die Staatsräson. „Diesen Sack machen wir nicht mehr auf“, verkündete eine Ministerpräsidentin, der es an Argumenten gebrach. Es war solcher SACKverstand, der das in Schweden nie ganz verschwundene Deutschenbild wiederaufleben ließ, nach dem deutsche Obertanen willkürlich schalten und walten, und sich die Untertanen, Herdentieren gleich, in ihr Schicksal fügen. Für mich als Hochschullehrer war es da ein Glück, auf den geharnischten Widerstand großer Teile der Bevölkerung verweisen zu können. Die hör- und sichtbare Zivilcourage in deutschen Landen bekam so noch eine ganz andere Dimension, denn sie bewies: Deutsche schicken sich eben nicht mehr drein, wenn ihre Obertanen wieder einmal durchdrehen. Übrigens verlangt die Schwedische Akademie von ihren Übersetzern konsequent und kompromißlos das bewährte Deutsch und tut es damit ihren Literaturnobelpreisträgern Grass, Jelinek und Müller gleich.   

     
Das Goethe-Institut ist, seinem Auftrag gemäß, normalerweise ein Fels in der Brandung, für den mit Deutsch befaßte Schweden zu Recht Dankbarkeit empfinden. Es ist der einzige Ort, wo sich deutsche und schwedische Übersetzer vor Publikum zum Erfahrungsaustausch treffen, wo deutschsprachige Autoren ihr schwedisches Publikum kennenlernen und alleingelassene Deutschlehrer sich begegnen. Allerdings sind manche Schriftstücke der Münchner Zentrale mit Denglisch-Phrasen gespickt, daß es einem graust. Es highlighted bis zum Abwinken. Ein unvergessen bleibendes Erlebnis war vor Jahren jene Leiterin des Stockholmer Instituts, die sich mit Englisch ein größeres Publikum versprach. Deutsche Dichter radebrechten plötzlich englisch. Deutschlehrer, die mit ihren Schülern gekommen waren, um endlich einmal wieder gutes Deutsch zu hören, faßten sich an den Kopf und schwiegen schwedisch still. Sie saßen das Problem aus, das mit den folgenden Leitern auf hoffentlich immer und ewig verschwand.


Ich bin Mitglied der schwedischen Organisation Språkförsvaret, Sprachverteidigung oder in besserem Deutsch vielleicht Sprachwehr geheißen. Wir sind ein kleiner, aber schlagkräftiger Verein, der nach den zehn Jahren seines Bestehens aus der schwedischen Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken ist. Ohne uns gebe es noch heute kein Gesetz, das Schwedisch zur Nationalsprache erklärt. Wir kämpfen wie deutsche Sprachorganisationen gegen Domänenverluste an das Englische, treten ein für das Erlernen von Fremdsprachen über das Englische hinaus, verteidigen die nordischen Nachbarsprachen und Schwedisch in Finnland.


Doch machen wir uns nichts vor. Schwedisch muß in Schweden heute um sein Existenzrecht kämpfen. Diese Rolle ist dem Schwedischen, das in seiner jüngeren Geschichte Unterdrückung und darauffolgenden Widerstand nie erfahren hat, fremd. 1982 sagte mir die Schriftstellerin Sara Lidman in einem Interview für die Weimarer Beiträge in trauriger Vorahnung: „Wenn die Videofilme und die TV-Satelliten das Himmelsgewölbe erobern, wird das Schwedische wohl schließlich einmal als eine überflüssige Sprache angesehen werden, als ein kleiner Dialekt, der allzu ländlich ist, um ihn weiter zu pflegen.“


Schon bei Schwedens Eintritt in die EU 1995 war die schwedische Regierung nur allzu gern bereit, in Brüssel auf Dolmetschleistungen ins Schwedische weitgehend zu verzichten. Den entsprechenden Fonds schöpfen Schweden und Dänemark nicht einmal zur Hälfte aus. Schwedische Politiker sprechen in EU-Zusammenhängen am liebsten Englisch. Die Zuarbeiten durch schwedische Kommunen werden dadurch ein erstes Mal „geglättet“. Beim Dolmetschen in die anderen EU-Sprachen wird das zuweilen schwerverständliche Englisch ein weiteres Mal ausgedünnt. Der Text, soweit er dann schließlich wieder ins Schwedische übertragen wird, ist von den Kommunalangestellten, die ihn einst verfaßten, kaum noch wiederzuerkennen. Die Schlußfolgerung, „Brüssel versteht eben unsere Probleme nicht“, hat in diesem Fall rein sprachliche Ursachen. Ein Seminar unserer Organisation Språkförsvaret mit EU-Dolmetschern wurde für mich zu einem unvergeßlichen Erlebnis.


Ginge es nach Marian Radetzki, einem Professor für Wirtschaftswissenschaften der Universität Umeå, sollte Schweden schleunigst Englisch als neue Muttersprache einführen. Das dauere nur zwei Generationen lang und brächte Vorteile ungeahnten Ausmaves. Der Mann meint das ernst und erhält immer wieder Raum in schwedischen Medien. Ich versprach ihm im Beitrag Good Night, Sweden in Dagens Nyheter, der größten schwedischen Tageszeitung, die Idee an einige deutsche Kabarettisten weiterzuleiten. Sie gehöre nach Absurdistan, wenngleich selbst dessen Bürger nicht so beschränkt wären, ihr Absurdistanisch aufzugeben. Eine schwedische Kollegin von Språkförsvaret schrieb, der Professor polnischer Herkunft möge doch die Idee, um seiner selbst willen ganz vorsichtig nur, einmal in Polen äußern. Gefiele sie dort, dürfe er gern weiterwandern und Deutschland und Frankreich damit beglücken. Wie ich inzwischen durch die Deutsche Sprachwelt weiß, hat Deutschland jedoch schon seine eigenen Vertreter auf dem Stoppelfeld angliziter Globalakrobatik. In meiner Heimatstadt Burg, Sachsen-Anhalt, sagt man über solche Leute: „denken wunder, wer se rausjelassen hat“. Lassen Sie uns unsere Anstrengungen vereinen, damit es über Ideen solcher Art hier und in Schweden bald heißen kann, was die taz über Schlecker schrieb: For You. Vor Bei.    

Frank-Michael Kirsch